Eine persönliche Geschichte öffnet die Tür zu einer tieferen Frage: Warum führen einige Shibari-Sitzungen zu unerwarteten Tränen, Erinnerungen oder Erleichterung? Dieser Artikel untersucht die Neurobiologie hinter emotionaler Entspannung und was es bedeutet, dafür Raum zu schaffen.
Vor ein paar Wochen begleitete ich eine Frau durch ihre allererste Shibari-Erfahrung.
Wie immer begannen wir mit einem Gespräch: Grenzen, Wünsche, Sicherheit.
Sie war ruhig, offen, neugierig – mit dieser stillen Aufregung, die viele beim ersten Mal mitbringen.
Dann kamen die ersten Wraps. Der Atem wurde geerdet.
Sie blieb ansprechbar, aber ein wenig angespannt – nichts Ungewöhnliches.
Doch dann hob ich sie an.
Ihr Körper schwebte.
Etwas veränderte sich. Der Atem wurde flach, der Puls stieg.
Ich spürte es sofort: Der Körper erinnerte sich an etwas, das der Verstand nicht abrufen konnte.
Ich senkte sie langsam. Hielt sie. Fragte leise:
„Was ist es? Was liegt wie ein Knoten in deinem Hals?“
Sie schloss die Augen. Tränen flossen. Kein Schock, keine Panik – sondern etwas Tieferes.
Etwas, das sich lösen wollte.
„Ich wusste nicht, dass das noch in mir ist. Ich hätte nie gedacht, dass das so tief sitzt.“
Wir schwiegen. Ich hielt sie einfach.
Und in dieser Stille begann ihr Körper das freizugeben, wofür ihr Geist noch keine Worte hatte.
Warum zeigt sich genau in der Seilarbeit immer wieder diese tiefe emotionale Bewegung?
Ich setzte mich später hin, suchte nach Erklärungen – in der Psychologie, der Neurowissenschaft, der Körperarbeit.
Und was ich fand, war berührend, präzise und zutiefst menschlich.
Emotionale Befreiung ist der Prozess, bei dem unterdrückte oder gespeicherte Gefühle – durch Tränen, Zittern, Stille oder Atmung – freigesetzt werden.
Die Psychologie spricht dabei oft von Katharsis:
Ein Moment innerer Entladung, dem meist Erleichterung, Ruhe oder Integration folgt.
Solche Prozesse passieren nicht nur in der Therapie.
Sie geschehen in Musik, Tanz, Atemarbeit, tiefer Berührung, in Intimität – und ja: in Shibari.
Das limbische System – insbesondere die Amygdala – speichert emotionale Erfahrungen.
Es analysiert nicht. Es reagiert – auf Berührung, Ton, Geruch, Atemmuster.
Fühlt sich der Kontext sicher, entspannt sich das System – und Erinnerungen steigen auf.
Das Nervensystem lässt los, was es lange gehalten hat.
Studien wie „Die Neurobiologie des menschlichen Weinens“ (Gračanin et al., 2018) zeigen:
Weinen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein neurologisch regulierter Mechanismus zur Stressverarbeitung.
Shibari ist nicht neutral.
Es wirkt über:
All das öffnet emotionale Räume, die im Alltag oft verschlossen bleiben.
Und wenn der Moment stimmt – tritt das Unausgesprochene hervor.
Nicht jede Freisetzung ist dramatisch. Manchmal ist es:
Und es ist nie genau vorherzusagen, wann oder bei wem es geschieht.
Doch wenn es geschieht, braucht es Raum. Und Verantwortung.
Ich suche diese Momente nie.
Aber ich bereite mich darauf vor.
Wie Andy Buru sagt:
„Du bist nicht verantwortlich für das Trauma einer Person – aber für den Raum, den du hältst.“
Emotionale Befreiung ist kein Ziel.
Und darf nie forciert, erwartet oder als Leistung verstanden werden.
Wenn Menschen mit Trauma oder instabiler psychischer Gesundheit ins Seil gehen, sollte das achtsam, transparent und möglichst begleitend zur Therapie geschehen.
Ein paar einfache Leitlinien:
Ein Seil hält nicht nur Arme.
Manchmal hält es Tränen. Bilder. Geschichten.
Manchmal auch das, wofür jemand noch keine Sprache hat.
Doch wenn der Moment stimmt,
der Raum sicher ist,
der Atem sich verlangsamt …
Dann kommt die Freisetzung.
Leise. Wahr. Tiefer als Worte.
Halte sie mit Würde.
Lass sie fließen.
Und wisse: Auch das ist Teil der Kunst.
Dies ist eine Einladung an alle, die sich danach sehnen, mehr zu fühlen, tiefer zu vertrauen und sich selbst neu zu begegnen.